Es gibt Sätze, über die man lange nachdenken muss. Und es gibt Sätze, die man nie mehr vergisst. Und solch einen Satz hat mir ein Auschwitz-Überlebender gesagt. Er lautet: „Ich habe mir geschworen zu überleben“. Seitdem ich ihn gehört habe, gibt er mir Mut, egal wie die Situation auch sein mag. Und immer, wenn ich an ihn denke, sehe ich den Mann, der diesen Satz gesagt hat, wieder vor mir. Wie er mir direkt gegenüber saß und mir – dem jungen Lokalreporter- freundlich und geduldig Fragen beantwortete und aus seinem langen Leben erzählte, das soviel Leid aushalten musste.
Leslie Schwartz. Foto: Siegmund Natschke.Ich traf Leslie Schwartz das erste Mal im Jahr 2012. Ich kann mich genau daran erinnern. Ich war damals Journalist der „Münsterschen Zeitung“ und ackerte die Termine in den Stadtteilen ab. Heute würde er in einem Gymnasium vor Oberstufen-Schülern sprechen. Obwohl in wenigen Minuten schon die Schulstunde begann, nahm er sich extra für mich noch ein wenig Zeit. Das war für ihn eine Selbstverständlichkeit.Wir saßen auf den Sesseln vor dem Lehrerzimmer und tranken Kaffee. Ich stellte -ein wenig hektisch- meine Fragen, und Leslie Schwartz antwortete geduldig. Durch seine Art nahm er mir jede Nervosität. Auf Anhieb verstanden wir uns. Freundlich erkundigte er sich nach meinem bisherigen Lebensweg und nach meinem Alltag als Lokaljournalist. Als die Schulklingel ertönte, machten wir uns langsam auf den Weg. Gemeinsam gingen wir zum Unterrichtsraum. Leslie Schwartz berichtete immer wieder vor Schulklassen von einer Vergangenheit, die für ihn zeitlebens gegenwärtig war.
Mit ruhiger und sympathischer Stimme erzählte dieser Mann dann aus seinem Leben – und vom Überleben. Von den Verbrechen, die er erleiden und Grausamkeiten, die er ertragen musste. Fast unglaublich ist, dass er trotz allem voller Zuversicht war und einen schier unermesslichen Optimismus ausstrahlte: „Die Jugend von heute ist beeindruckend“, meinte Leslie Schwartz voller Überzeugung. Den Schülern sagte der damals 82jährige :„Als ich so alt war wie ihr, war ich in einem Konzentrationslager inhaftiert.“
Es war der 15. April 1944, als die Kindheit von Leslie Schwartz schlagartig beendet war, ein Jahr vor Kriegsende. „Plötzlich kam die Polizei zu meiner Mutter , und sagte, wir müssten alles abgeben. Geld, Schmuck, alles.“ Es war der Beginn eines schrecklichen Weges: „Sie haben uns in Viehwaggons gesteckt und ins Ghetto gebracht. Wir hatten schreckliche Angst.“
Obwohl es Versprechungen gab: „Sie sagten uns, jeder würde einen Job erhalten, eine gute Wohnung, die Familie würde zusammenbleiben.“ Was folgte war Auschwitz. „Als unsere Familie in Auschwitz ankam, wusste ich: Das ist falsch.“ Die Ankömmlinge wurden aufgeteilt, zwei Reihen wurden gebildet. Frauen und Kinder kamen in die rechte Reihe, Männer in die linke. Es wurde zu einer furchtbaren Entscheidung, die Leslie Schwartz für sich treffen musste. Sollte er der Mutter und der Schwester folgen oder dem Stiefvater. „Es war so etwas wie eine Vorahnung, die ich hatte“, sagte Schwartz: Er ging mit den Männern mit, das rettete ihm das Leben.
Doch zunächst blickte er in die Fratze des Bösen. KZ-Arzt Dr. Josef Mengele, der für seine grausamen Menschenversuche bekannt wurde, fragte ihn nach seinem Alter. „Ich habe ihm gesagt, dass ich schon 17 bin“. Seine Mutter, aber auch seine Schwester und seinen Stiefvater wird er nie wieder sehen. Für ihn selbst beginnt eine Odyssee, die ihn immer wieder in die Nähe des Todes bringt, obwohl die letzten Kriegstage angebrochen sind, und die Alliierten immer weiter vorrücken. Schwartz kam ins Kinderlager und musste Zwangsarbeit verrichten. Schließlich kam er in das KZ Dachau, von da aus in eines der vielen Außenlager. Menschenverachtung auch hier, „Vernichtung durch Arbeit“ wurde ohne Erbarmen an den jüdischen Gefangenen praktiziert. „Ich bestand nur noch aus Knochen. Da habe ich Angst gekriegt und mich gefragt, ob ein Mensch so überleben kann.“ Doch sein Wille ist nicht bezwingbar: „Ich habe mir geschworen zu überleben.“
Das Märtyrium geht weiter. Er kommt in den so genannten „Todeszug“ von Mühlenfeld (Oberbayern), der über Umwege auch in das polnische Poing fährt, wo der Zug repariert werden sollte. „Uns hat man dort gesagt: ´Ihr seid frei´“, erinnert sich Schwarz. Doch als er auf einem Bauernhof aufgespürt wird, und er geistesgegenwärtig zur Flucht ansetzt, passiert es: „Eine Kugel traf mich im Genick und trat an der anderen Seite wieder aus.“ Wieder gefangen, die Fahrt im Todeszug geht weiter. Immer wieder erlebt er Massenerschießungen an den Gleisen. Und: „Der Zug war voller Tote.“ In München wird der Zug schließlich aufgeteilt, Leslie Schwartz sitzt im Vorderzug, der auch noch bombardiert wird. Dann, in Tutzingen, die Erlösung: Die Alliierten befreien die Gefangenen, bergen Kranke und finden noch mehr Tote.
Die Schüler schwiegen. Auch Leslie Schwartz schwieg eine Weile, doch dann sprach er weiter. Über die Vergangenheit, deren Fehler man nicht wiederholen sollte. Aber auch über die Zukunft und die Jugendlichen, in der er so große Hoffnungen setzte. Und obwohl ihn, wie er sagte, manche Freunde nicht verstünden, warum er dies tat, kam er auch weiter nach Deutschland- und sprach. Über diese Vergangenheit sprechen, das konnte er erst seit wenigen Jahren. Und das war für ihn wichtig: „Mein wundervoller Heilungsprozess beginnt damit, dass ich meine Erinnerungen mit den Jugendlichen teile. Ich hoffe, dass dieses neue Gefühl mich erst verlässt, wenn ich sterbe.“
Leslie Schwartz wurde 90 Jahre alt, er starb am 12. Mai 2020.
Siegmund Natschke, Freier Journalist.
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